Es ist diese andere Art von bunt
Ein Nachtwandler balanciert mit weit ausgestreckten Armen auf einem Seil. Adrian Mudder hat
ihn als helle Silhouette hinter dem unbestimmt dunklen Grund seines Gemäldes hervorgeholt. Versieht er die gewagte Tour des Männleins mit dem lakonischen Titel How Painting Is (2014, S. 7), wird sie zu einem Sinnbild für
das Malen schlechthin. Strich für Strich auf dem schmalen Grat der Entscheidung tänzelnd
ist der Maler immer in einem Universum von Möglichkeiten unterwegs. Eine farbige
Wandzeichnung, die Adrian Mudder als wortwörtlich genommene Radierung unter einer zuvor aufgebrachten schwarzen Kreideschicht herausarbeitet, erscheint in der Städtischen Galerie Delmenhorst wie ein Blow Up dieser Situation.
Das Publikum begeistert sich an dieser irrlichternden, floralen Fantasie des Künstlers, an der Opulenz des Painters Cinema (2020, S. 32–33)
und zugleich erahnt es die Hof nung des Malers und Zeichners im künstlerischen Prozess zu
jener traumtänzerischen Sicherheit zu finden, die im Märchen die umherirrenden Protagonisten
urplötzlich an ein bis dahin unbekanntes Ziel führt.
Als sei sein Universum nicht groß genug bucht Adrian Mudder Ende 2017 ein Neues hinzu.
Er lädt sich die kostenlose Applikation Autodesk SketchBook auf sein Smartphone. Nichts
Besonderes unter Künstlern; kaum einer, der nicht die neuen kreativen Möglichkeiten der
digitalen Welt erprobt. Aber der obsessive Zeichner Adrian Mudder fängt Feuer. Schließlich
ist das klassische Skizzenbuch schon seit seinen Studienjahren sein täglicher Begleiter. Mit
Aquarell oder Gouache, vor allem aber mit Bleistift, Farbstiften, Kugelschreiber und Kreiden zeichnet er von je her das, was er heute
Nomadische Notizen nennt. Sämtlich und sonders auf voluminösem, gelblich-weißem Papier, fast
immer im Hochformat, fast immer auf der Bildseite mit Ort und Datum versehen. Viele
Stillleben sind dabei: Kaffeekannen, Apfelsinen, Blumen, Kürbisse, Sushi, Spiegeleier, Kippen
und groteske Entgleisungen all dieser Dinge. Genauso gibt es Landschaften und Portraits,
präzise lineare Zeichnungen oder malerische Anmutungen, dann wieder verwunschene
Kritzeleien, Ornamentales, Figurationen und Mischformen aus alledem. Manche dieser Studien lassen eine mehr oder minder chamäleonartige
Pirsch auf den Spuren geschätzter Künstlerkollegen erkennen. Zu ihnen gehören Adriaen
Brouwer oder Edvard Munch genauso wie Olav Christopher Jenssen, der frühere Malerprofessor des jungen Künstlers an der HBK Braunschweig, oder auch Norbert Schwontkowski und
David Hockney.
Verflucht der koreanische Philosoph Byung-Chul Han unsere digitalen Endgeräte als mobile
Arbeitslager, so entdeckt der leidenschaftliche Zeichner Adrian Mudder in seinem SketchBook
ganz unverblümt ein wunderbar portables Paradiesgärtlein. Dessen Verlockungen liegen in der
Hand: Zeichnen jederzeit, überall und schnell, ohne nennenswerte Widerstände. Kämpften die Impressionisten en plein air mit ihren im Wind flatternden Blättern, mussten Künstler
der Klassischen Moderne, die in Cafés und Bars ihre Motive suchten, immer zumindest eine
Funzel zurechtrücken und ihr Equipment parat haben, so braucht der Smartphone-Sketcher
nichts dergleichen. Für den Beobachter Adrian Mudder wird sein Mobiltelefon zu einem
idealen Tool für das, was er selbst als Kurzstreckenkonzentrationstraining bezeichnet. Hat er sein
Gerät geladen, ist das Zeichnen selbst unter der Bettdecke möglich, genauso im
Nachtzug, auf mehr oder minder illuminierten Straßen, in gemütlicher Gesellschaft, auf
Partys, gerne dort, wo auch andere Nachtschwärmer mit ihren Endgeräten unterwegs sind. Nicht
zuletzt werden ihm dann immer wieder diejenigen zum Motiv, deren Gesichter vom
Widerschein ihrer Mobiltelefone geradezu sakral erleuchtet scheinen. Im Dunkel der Nacht –
zu-gleich befreit und geborgen – arbeitet
Adrian Mudder entlang der fließenden Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit. Und ist
ihm in Anbetracht der ein oder anderen Skizze nach einem Feedback, so kann er eine
Zeichnung in Sekundenschnelle mit anderen teilen. Plenum ist im Zweifelsfall immer. Vor allem
für den Künstler, der Fragen von Original und Autorschaft entspannt sehen kann und eine oberflächliche Betrachtung goutiert.
Adrian Mudder zeigt mit seiner Ausstellung Pictures From My Pocket eine Fülle von digitalen
Zeichnungen auf Tablets wie auch als Fotopapier-skizzen, genauso Zeichnungen auf Papier und
Gemälde unterschiedlichen Formates.
Damit nimmt er das Publikum auf seine künstlerische Forschungsreise mit, auf eine Suche, die
von der Frage getragen ist, wo und in welcher Weise sich seine medialen und motivischen
Universen berühren. Digitale Programme simulieren traditionelle Zeichengeräte samt Radiergummi; Schattierungen, Schraffuren und
dergleichen erscheinen wie von Zauberhand; Pinsel, Farben, Texturen, experimentelle
Sprüh- oder Kratztechniken und unendlich viel mehr wird nachgeahmt und dennoch entsteht
Anderes. Selbst ein mit traumtänzerischer Sicherheit gesetzter Strich, ob mit dem Finger oder
Eingabestift ausgeführt, hat immer etwas Malerisches, wenn er mit dem Smartphone oder
Tablet ausgeführt wird. Alles erweckt den Eindruck als könnte es in jedem Moment in eine
noch so immaterielle Fläche bzw. in einen diffusen Raum emittieren. Linien und Farben haben
etwas Instabiles und dabei immer Strahlendes, und was die Palette betrifft, so wird unter dem
Eindruck der Ausstellung Pictures From My Pocket im Besucherbuch erstaunlich prägnant resümiert: „Es ist diese andere Art von bunt“. Dabei spielt das Blau, dessen innere
Unermesslichkeit in der Literatur und Kunst zum Topos geworden ist, in diesem neuen Bunt
von Adrian Mudder eine wichtige Rolle. Das Blau als Farbe der Helligkeit und des Lichtes wie
auch der Dunkelheit. Der Künstler macht es zum Font seiner Ausstellung
und bestellt so sein Experimentierfeld: Mit einem großformatigen, gemalten Nachtstück wie
Open Air (2019, S. 35) oder der kleinformatigen Gruppe Mondscheinorchester (2019, S. 82–84) erprobt er den Transfer dessen, was sich mit vorausgehenden Smartphone-Skizzen atmosphärisch
erhaschen ließ. Schemenhafte schwarze Figurenschatten tanzen vor tief violettblauem Grund,
Lichtreflexe und Lampionschmuck schweben als ausfransendzerstäubendes Orange, Gelb oder Weiß im Ungefähr, in jüngster Zeit gerne
auch mit der Sprühdose aufgebracht. Sprechen wir davon, dass der traditionelle Zeichner etwas
auf seinem Papier festhält, ja, dass er sein
Motiv bannt, so lösen die Touchscreen-Gesten des Tippens, Ziehens, Wischens, Scrollens
dieses sprachliche Bild auf. Dabei findet sich im Deutschen ein neues treffendes Bild, in dem
eine kuriose Mischung aus Abschlussstärke und Antisepsis mischwingt: Der Zeichner erwischt
sein Motiv auf dem Bildschirm. Vor allem dann, wenn er mit dem bloßen Finger zeichnet,
erinnert dies wiederum ganz unerwartet an jene Kindertage, in denen jeder einmal
gedankenverloren und fasziniert auf einer beschlagenen Scheibe, im Grunde einem Ur-Screen,
schön locker und flüssig gezeichnet hat. Das Gemälde Kražiai (2019, S.30), ein litauischer
Fensterblick an einem verregneten Tag, strahlt die Melancholie solcher Tage aus. Und es strahlt
tatsächlich selbst das Grau, es erstrahlen die Graunuancen des Gemäldes, was einer schlierige
Nass-in-Nass-Ölmalerei geschuldet ist. Ein souverän gemaltes Fensterbild, das entschleunigt
und innehalten lässt, in Zeiten, in denen die zahllosen Fenster, die unsere Wahrnehmung und
unser Bewusstsein recht eigentlich prägen, längst in unser aller Hosentaschen mobil sind.
Annett Reckert